Beantragen Jugendämter zu schnell die
Sorgerechtsentziehung? Geben die Familiengerichte solchen Anträgen zu
leichtfertig statt? Medienberichte der letzten Wochen deuten dies an. Unter
anderem berichtete die ZDF Sendung Mona Lisa am 14.12.2013 über einen solchen
Fall und interviewte einen ehemaligen Familienrichter zu diesem Thema.
http://www.zdf.de/ML-mona-lisa/sorgerechtsentzug-wegen-mangelhafter-gutachten-vor-gericht-31120934.html
Auch
uns sind Fälle bekannt geworden, in denen anstelle der beantragten
Eingliederungshilfen hastig das Familiengericht angerufen wurde, um bei
ansonsten intakten Familienverhältnissen eine Entziehung des Sorgerechts
durchzusetzen. Für die betroffenen Familien kommt dies einem Alptraum gleich.
„Das
Gesetz sieht vor, dass vornehmlich Hilfen in die Familien reingegeben werden,
wenn Probleme da sind", so
der ehemalige Familienrichter Prof. Elmar Bergmann gegenüber dem ZDF. Es
entsteht der Eindruck, dass die Jugendämter, wenn Eltern nicht mit den
Vorstellungen der Behörde konform gehen, diesen vorschnell ein
Erziehungsversagen unterstellen, und sich ihre Arbeit mit der Entziehung des
Sorgerechts leicht machen wollen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Eltern sich
selbst mit einem Antrag auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII
hilfesuchend an das Jugendamt wenden, das Jugendamt jedoch hinsichtlich der
Gestaltung der konkreten Hilfe andere Ansichten verfolgt und diese mit Hilfe
des Familiengerichts durchsetzen will. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn das
Jugendamt gegen den Willen der Eltern eine stationäre Heimunterbringung
durchsetzen will.
Uns ist
in einem weiteren Fall berichtet worden, das ein Jugendamt zwar einem als
Eingliederungshilfe gestellten Antrag auf Kostenübernahme für eine
Internatsbeschulung stattgeben wollte. Allerdings bestand die Behörde darauf,
die Entscheidung auf eine andere Rechtsgrundlage zu stützen, nämlich nicht auf
§ 35a, sondern § 34 SGB VIII (Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform). Auch
hier ist Wachsamkeit geboten, denn diese Vorschrift soll nach ihrem Wortlaut
u.a.
entsprechend
dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen sowie den
Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der
Herkunftsfamilie
1.
eine
Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen oder
2.
die
Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder
3.
eine
auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten.
In
einem solchen Fall keimt der Verdacht auf, dass über die Auswahl der
Rechtsgrundlage bereits eine künftige Sorgerechtsentziehung abgesichert werden
soll. Solchen Bestrebungen ist von vornherein entschieden entgegenzutreten.
Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe
Kinder
oder Jugendliche haben einen Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre
seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von
dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und daher ihre Teilhabe am
Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung
zu erwarten ist. Diese Leistung setzt einen Antrag voraus. Ggf. müssen
Jugendämter auf die Notwendigkeit einer Antragstellung hinweisen und
entsprechend beraten. Wird ein solcher Antrag gestellt, muss das Jugendamt über
ihn auch entscheiden. Gegen eine ablehnende Entscheidung kann Klage beim
Verwaltungsgericht erhoben werden. Sofern das Jugendamt die Bearbeitung ohne
erkennbaren sachlichen Grund verzögert, kann vor dem Verwaltungsgericht eine
sog. Untätigkeitsklage erhoben werden.
Hilfeplan
Die
Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Art der Kinder- und Jugendhilfe
soll, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im
Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden. Als Grundlage für die
Ausgestaltung der Hilfe sollen sie zusammen mit dem Personensorgeberechtigten
und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen, der
Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die
notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte
Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist (§ 36 Abs. 2 SGB VIII).
Kindeswohlgefährdung
Die
klassischen Fälle der Kindeswohlgefährdung sind häusliche Gewalt, Missbrauch
oder Vernachlässigung des Kindes. Es liegt auf der Hand, dass nicht jeder
Hilfebedarf solch schwerwiegende Ursachen hat. Ein Hilfebedarf kann z.B. auch
aus Problemen im schulischen Bereich resultieren. Kommt es im Rahmen der
Hilfeplanberatungen nicht zu einer Einigung über die geeignete Hilfeart, kann
es auch in solchen Fällen durchaus geschehen, dass Jugendämter das
Familiengericht einschalten, weil sie aus dem Verhalten der Eltern auf eine
Kindeswohlgefährdung schließen d.h. eine Kindeswohlgefährdung schon deswegen
vermuten, weil Eltern mit den von der Behörde favorisierten Maßnahmen nicht
einverstanden sind.
Aufgaben des Jugendamtes
Die
Jugendämter haben eindeutig einen gesetzlichen Schutzauftrag (§ 8a SGB VIII).
Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls
eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, hat es das Gefährdungsrisiko im
Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einschätzen. Hält das Jugendamt zur
Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so
hat es diese den Erziehungsberechtigten anzubieten. Hält das Jugendamt das
Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das Gericht
anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in
der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht
eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet
werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in
Obhut zu nehmen.
Wunsch- und Wahlrecht der Erziehungsberechtigten und
der Kinder
Andererseits
sind die Familien bei der Auswahl und Gestaltung der Hilfen zu beteiligen. Die
Leistungsberechtigten haben das Recht, zwischen Einrichtungen und Diensten
verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der
Hilfe zu äußern. Sie sind auf dieses Recht hinzuweisen. Der Wahl und den
Wünschen soll entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen
Mehrkosten verbunden ist (§ 5 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Nicht selten
unterbleiben Hinweise auf dieses Wahlrecht.
Aufgaben des Familiengerichts
Das
Familiengericht hat die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr
erforderlich sind, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des
Kindes oder sein Vermögen gefährdet wird. Voraussetzung ist allerdings, dass
die Eltern zur Abwendung der Gefahr nicht fähig oder nicht bereit sind (§ 1666
Abs. 1 BGB). Dabei muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden:
Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie
verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch
nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Die gesamte Personensorge
darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder
wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen (§
1666a Abs. 1 und 2 BGB).
Es ist
äußerst fraglich, ob das Familiengericht den Eltern auch dann ein Versagen
unterstellen darf, wenn diese sich selbst hilfesuchend an das Jugendamt wenden
und um Unterstützung bitten.
Grundrechtseingriff
Die
Entziehung des Sorgerechts ist immer ein schwerwiegender Eingriff in das
Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder und berührt auch die Kinder
unmittelbar. Das Grundgesetz bestimmt folgendes: Die Pflege und Erziehung der
Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die vorrangig ihnen obliegende
Pflicht. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf
Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten
versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen (Art.
6 Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes). Das Bundesverfassungsgericht stellt an die
Verfassungsmäßigkeit eines solchen Eingriffs sehr hohe Anforderungen.
Es
drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass die Gerichte der unteren
Instanzen diese Anforderungen nicht immer beachten. In einer ganzen Reihe von
Fällen hob das Bundesverfassungsgericht entsprechende Beschlüsse der
Vorinstanzen wieder auf. Häufig bleibt schlicht nichts anders übrig, als sich
gegen Entscheidungen der Familiengerichte an das Bundesverfassungsgericht zu
wenden. In einem Beschluss vom 28.2.2012 (1 BvR 3116/11)
umreißt das Bundesverfassungsgericht die rechtlichen
Anforderungen wie folgt.
Der verfassungsrechtliche Rahmen nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
„Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das
Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Die Erziehung des Kindes ist damit
primär in die Verantwortung der Eltern gelegt, wobei dieses „natürliche
Recht" den Eltern nicht vom Staate verliehen worden ist, sondern von
diesem als vorgegebenes Recht anerkannt wird. Die Eltern können grundsätzlich
frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden,
wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer
Elternverantwortung gerecht werden wollen. In der Beziehung zum Kind muss aber
das Kindeswohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung
sein. Der Schutz des Elternrechts, das Vater und Mutter gleichermaßen zukommt,
erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts. Soweit es um die
Trennung des Kindes von seinen Eltern als dem stärksten Eingriff in das
Elternrecht geht, ist dieser allein unter den Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 3
GG zulässig. Danach dürfen Kinder gegen den Willen des Sorgeberechtigten nur
aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die
Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu
verwahrlosen drohen. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern
berechtigt den Staat auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG
zukommenden Wächteramtes, die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes
auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen. Das elterliche
Fehlverhalten muss vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei
einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder
seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist. Wenn Eltern das Sorgerecht für ihre
Kinder entzogen und damit zugleich die Aufrechterhaltung der Trennung der
Kinder von ihnen gesichert wird, darf dies zudem nur unter strikter Beachtung
des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Dieser gebietet es, dass Art
und Ausmaß des staatlichen Eingriffs sich nach dem Grund des Versagens der
Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist.
Der Staat muss daher nach Möglichkeit versuchen, durch helfende,
unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten
Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen.
In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht befunden, dass der
Gesetzgeber mit § 1666 Abs. 1 in Verbindung mit § 1666a BGB eine Regelung
geschaffen hat, die es dem Familiengericht ermöglicht, bei Maßnahmen zum
Schutze des Kindes auch dem grundgesetzlich verbürgten Elternrecht hinreichend
Rechnung zu tragen. Grundsätzlich ist die Gestaltung des Verfahrens, die
Feststellung und die Würdigung des Tatbestandes sowie die Auslegung und
Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklicher Regelungen im einzelnen Fall
Angelegenheit der zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch das
Bundesverfassungsgericht entzogen. Ihm obliegt lediglich die Kontrolle, ob die angegriffene
Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich
unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts oder vom Umfang
seines Schutzbereiches beruhen. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben lassen sich
die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts aber nicht
starr und gleichbleibend ziehen. Sie hängen namentlich von der Intensität der
Grundrechtsbeeinträchtigung ab. Bei gerichtlichen Entscheidungen, die Eltern
oder Elternteilen das Sorgerecht für ihr Kind entziehen, besteht wegen des
sachlichen Gewichts der Beeinträchtigung der Eltern in ihren Grundrechten aus
Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG Anlass, über den grundsätzlichen
Prüfungsumfang hinauszugehen. Daher können neben der Frage, ob die angefochtene
Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen
Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines
Schutzbereichs beruhen, auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht
bleiben."
Im Folgenden rügt das Bundesverfassungsgericht
ausdrücklich, dass die Fachgerichte in den angegriffenen Entscheidungen
den Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gerecht geworden sind.
Ebenso Beschlüsse vom 29.1.2010 (1
BvR 374/09), vom 10.9.2009 (1 BvR 1248/09), vom
17.6.2009 (1 BvR 467/09) u.a.
Konsequenzen
Die Instanzgerichte müssen im Rahmen des
Verhältnismäßigkeitsgebots grundsätzlich das mildeste geeignete Mittel
auswählen. In Sorgerechtsauseinandersetzungen kommt es daher vor allem darauf
an, auf die Verpflichtungen der Jugendämter nach dem Kinder- und
Jugendhilferecht hinzuweisen und geltend zu machen, dass geeigneter mildere
Mittel nach dem Kinder- und Jugendhilferecht in Betracht kommen und zunächst
vorrangig angewendet werden müssen. Die Entziehung des Sorgerechts ist immer
das letzte Mittel der Wahl.
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