Nicht Menschen, sondern Gesetze sollen
den Staat beherrschen, forderte schon
Platon in Griechenland vor nahezu
zweieinhalbtausend Jahren. Das ist heute
die Grundidee des Rechtsstaates. Alles,
was der Staat tut, muß sich auf ein Gesetz,
jedes Gesetz wiederum auf die Verfassung
stützen können. Da alle Mitgliedstaaten der
Europäischen Union diesem
Rechtsstaatsprinzip folgen, gilt es auch für
die Union selbst.
Letzte Instanz in Europa
Kennzeichnend für das Rechtsstaatsprinzip ist:
Unabhängige Gerichte garantieren jeder
Bürgerin und jedem Bürger umfassenden
Rechtsschutz gegen jeden Mißbrauch der
staatlichen Gewalt; die Gerichte wachen
darüber, daß die Gesetzgebung sich an die
Verfassung hält und die Verwaltung an die
Gesetze.
Diese Aufgaben erfüllt in der Europäischen
Union der Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften (EuGH). Er entscheidet
beispielsweise aufgrund einer Klage (eines
Mitgliedstaates, eines Organs der Union, eines
Unternehmens, einer EU-Bürgerin oder eines
EU-Bürgers oder auch eines Staatsangehörigen
aus einem Drittstaat), ob in einem Einzelfall
gegen geltendes Gemeinschaftsrecht
verstoßen wurde. Er entscheidet aber auch
endgültig, wie strittige Texte in den Verträgen
zu verstehen sind. Der Gerichtshof gestaltet
also europäisches Recht fort und bewahrt es
zugleich. Seine Urteile sind unanfechtbar
(letzte Instanz).
Neben Urteilen trifft der Gerichtshof
Vorabentscheidungen, das heißt: Wenn ein
nationales Gericht in einem Prozeß Europarecht
für entscheidend hält, kann es dem EuGH diese
Frage zur Klärung ("Vorabentscheidung")
vorlegen. Diese Entscheidung ist für das
nationale Gericht bindend. So ist
gewährleistet, daß das Gemeinschaftsrecht in
allen Staaten der EU einheitlich angewandt
wird.
Der EuGH entscheidet auch in Fragen des
Grundrechtsschutzes der Bürger gegenüber der
Hoheitsgewalt der Gemeinschaft. Die meisten
Urteile fällt der EuGH jedoch im
Wirtschaftsrecht (vor allem in Fragen des
Wettbewerbs) und auf dem Gebiet der
gemeinsamen Politiken.
Die 15 Richter des Gerichtshofs werden von
den Regierungen der Unions-Staaten in
gegenseitigem Einvernehmen auf sechs Jahre
ernannt, ebenso die acht Generalanwälte.
Dem Gerichtshof ist ein Gericht erster Instanz
mit ebenfalls 15 Richtern beigeordnet. Es ist
unter anderem zuständig für Rechtssachen im
Bereich der EGKS, für Wettbewerbsrecht sowie
für Streitfälle, die das Personal der Organe der
Union betreffen. Die Urteile des Gerichts erster
Instanz können beim EuGH angefochten
werden, wobei dessen Prüfung sich auf
Rechtsfragen beschränkt.
1997 hat der EuGH 341 Urteile gefällt, darunter
231 (68 %) Vorabentscheidungen und 32 über
Anfechtungsklagen gegen Urteile des Gerichts
erster Instanz. Das Gericht erster Instanz hat
149 Urteile gefällt.
Berühmte Urteile
Einige Urteile des Gerichtshofs der
Europäischen Gemeinschaften haben unser
Leben unmittelbar beeinflußt.
Das Cassis-de-Dijon-Urteil
Ein deutscher Lebensmittelkonzern hatte vor
dem EuGH geklagt, weil ihm die Einfuhr eines
französischen Likörs aus schwarzen
Johannisbeeren (französisch: cassis) unter
Hinweis auf deutsche Gesetze verboten
worden war; nach deutschem Recht mußten
Liköre mindestens 32 % Alkohol haben, der
"Cassis" aber hat weniger als 20 %. Der
Gerichtshof entschied 1978, das deutsche
Einfuhrverbot widerspreche den Verträgen der
Gemeinschaft, die den freien Warenverkehr
zwischen den Mitgliedstaaten fordern und
Einfuhrbeschränkungen verbieten. Der
Gerichtshof stellte den Grundsatz auf: Was in
einem Mitgliedsland der Gemeinschaft nach
dort gültigem Recht verkauft werden darf, das
darf auch in allen anderen Mitgliedsländern
verkauft werden. Dieses Urteil hat die Türen
für den freienWarenverkehr im Binnenmarkt,
gegen den sich viele Interessen gebildet
hatten, endgültig geöffnet.
Das Bier-Urteil
Das Urteil wurde dann noch präzisiert in
Entscheidungen des Gerichtshofs über weitere
Klagen, so im Zusammenhang mit dem
"Reinheitsgebot" für Biere, die in Deutschland
gebraut werden (dieses damals heftig
diskutierte Urteil wurde bei uns fälschlich so
ausgelegt, als würde "Europa" uns verbieten,
saubere Biere zu brauen). Ebenso untersagten
Urteile des Gerichtshofs deutsche
Einfuhrverbote für Wurstwaren, die
Bestandteile haben, die nach deutschem Recht
nicht erlaubt sind (z. B. Soja) und italienische
Einfuhrverbote für Teigwaren, die nicht aus
Hartweizengrieß hergestellt werden.
In Massenmedien beider Länder wurden die
Urteile zur Schelte an "Europa" mißbraucht: Die
Einigung Europas führe zu allgemeiner
Verschlechterung der Qualität unserer Lebens-
und Genußmittel. Die Wirklichkeit sieht
natürlich ganz anders aus.
Das Bosman-Urteil
Berühmt geworden ist auch ein Urteil des
Gerichtshofs aus dem Jahr 1995, dem eine
Klage des belgischen Profi-Fußballspielers
Bosman zugrunde gelegen hatte. Eine Folge
dieses "Bosman-Urteils" ist, daß seither auf
deutschen Fußballplätzen für Spieler aus
anderen Staaten der Europäischen Union nicht
mehr die "Ausländer-Regel" gilt, die es einem
Verein verbietet, mehr als drei ausländische
Spieler pro Spiel einzusetzen.
Staatsangehörige aus anderen Staaten der EU
dürfen nicht als Ausländer behandelt werden,
denn die EU-Verträge verbieten innerhalb des
Binnenmarktes jede Diskriminierung, also
Schlechterstellung eines Unionsbürgers
aufgrund der Nationalität. Jeder hat das Recht,
überall zu arbeiten.
Das Zahnarzt-Urteil
Am 28. April 1998 hat der EuGH entschieden:
Es verstößt gegen EG-Recht, wenn von einem
Versicherten verlangt wird, er müsse sich von
seinem Versicherungsträger vorab eine
Genehmigung einholen, bevor er sich von einem
Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat der
Union behandeln läßt.
Vorausgegangen war der Fall eines
Luxemburger Arztes, der seine Tochter von
einem Zahnarzt in Trier behandeln ließ. Seine
Krankenkasse hatte sich unter Berufung auf
luxemburgisches Recht geweigert, die Kosten
dafür zu übernehmen; eine Behandlung im
Ausland sei nur in dringenden Fällen (etwa bei
Auslandsaufenthalt) oder nach vorheriger
Genehmigung der Kasse möglich. Der Arzt
klagte, und das Luxemburger Gericht legte die
Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Eine Zahnbehandlung, so der Gerichtshof, sei
eine Dienstleistung, und jede Behinderung des
freien Dienstleistungsverkehrs im Binnenmarkt
verstoße gegen EG-Recht.
Das Urteil ist in Deutschland auf Kritik
gestoßen. Der EG-Vertrag schließe eine
Harmonisierung der Sozialsysteme in der EU
ausdrücklich aus. Das EuGH-Urteil könnte die
Funktionsfähigkeit des deutschen
Gesundheitssystems gefährden.
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